vom nicht-weggehen-wollen

In fünfzig Minuten gibt es Abendessen, da nutze ich mal die Zeit für einen Blogeintrag.

Die Erzählungen über unsere Reise im Herbst steht immer noch auf der Warteliste, es passiert einfach zu viel drumherum, dass ich es nicht schaffe, meinen Kopf in die Zeit zurückzukatapultieren, um anständige Berichterstattung zu leisten.

Lara ist in der Stadt um in zwanzig Minuten mit dem Großteil unserer Winterausreise an Freiwilligen nach Kerala zu fahren. Da ich schon dort war, und nicht Geld für nochmal dasselbe ausgeben wollte, werde ich das Wochenende bei den BR Hills verbringen, zusammen mit einigen der neuen Freiwilligen – sehr nette Leute, alles. Sogar Uma aus dem Kindergarten hat uns schon einmal die BR Hills empfohlen, die nur 120 km entfernt von hier sind. Auch die Schwestern, die ich gerade dazu ausgefragt habe, meinten, dass es da schön ist. Genaues haben wir noch nicht geplant, aber das wird sich dann sicher dort ergeben.

In der Schule sind wir inzwischen fleißig dabei, die Außenwände zu streichen. Ich füge die Bilder der fertigen Wand-Sektionen ein:

photo5474468511117060183photo5474468511117060187photo5474468511117060185photo5474468511117060186

photo5460998875201513563

links ist Suchitra, rechts ist Milana, beide aus der Achten.

photo5474468511117060182

Wir haben einen Plan aufgestellt. Die Außenwände sind durch Betonpfeiler getrennt, so können wir Stück für Stück vorgehen. Geplant sind zum einen solche Art von Sprüchen, wie sie auf den Bildern zu sehen sind. Ich habe heute eine lange Liste mit Sprüchen von Gayathri in die Hand gedrückt bekommen, die die Achtklässler gesammelt haben.

Desweiteren wollen wir an einer langen Wand von aneinandergereiten Beton-Sektionen einige der Staaten Indiens verewigen. Karnataka, Kerala, Rajasthan, Himachal Pradesh, Meghalaya, Delhi und Punjab. Darin sind so viele Verschiedenen Tundren und Faunen inbegriffen – Wüste, Dschungel, Backwaters, Himalayaberge, eine dicke Skyline, der Strand. Wir wollen versuchen, die Grenzen der Schule damit zu öffnen, die Vielfalt Indiens an die Wände malen, damit die Kids sehen, in was für einem wunderbaren Land sie da leben. Zwischen diese sieben Staaten [es gibt neben denen auch noch mehr] planen wir, die Kinder nach Klassen ihre Handabdrücke mit Namenszug an die Wand zu machen. Dieses Handabdruckgemache ist ein alter alter Hut, aber dennoch mögen wir die Idee. So kann man die Kinder in den Prozess des Schuleverschönerns gut einbeziehen und bringt stilistisch gesehen etwas Abstand zwischen die Malereien der Bundesstaaten.

Ich bin total glücklich mit dieser Art von Arbeit. Abgesehen davon, dass wir den ganzen Tag in der Sonne sind – und meine Arme so braun werden, dass ich sie nicht mehr mit Sonnencreme eincremen muss, weil sie sich keinen Sonnenbrand mehr einfangen können – bin ich total in meinem Element. In der Pause kommen immer Grüppchen angelaufen, fragen, was ich mache, lesen die Sätze vor, übersetzen für die Jüngeren auf Kannada. Ich versuche, den Satz vereinfacht auszudrücken. Ibbani aus der Ersten hat ihre Finger in die Farbe getunkt. Da ich jetzt statt einer normalen Wasserflasche immer eine 2-Liter-Flasche mit in die Schule nehme, kann ich ihr frohen Mutes Wasser über die Hände schütten, damit sie sich nicht die Uniform vollsaut.

Heute kamen ein paar Jungs aus der dritten Klasse. Einer hatte mit Daumen und Zeigefinger eine Libelle gefangen, die er mir mit zusammengedrückten Flügeln stolz unter die Nase hält. „Akka nodi“, guck, Schwester. Ich bin überrascht, dass er es geschafft hat, eine der Libellen einzufangen.

Er lässt sie wieder frei und sie fliegt schnell davon. Die anderen zeigen in die Richtung des Palmenblattes, wo die Libelle hingeflogen ist.

In der nächsten Pause kommt ein Junge aus der Fünften mit einem Grashüpfer an. Er ist ziemlich ungezogen, und reagiert nicht, als ich ihm sage, er solle den Grashüpfer aus meinem Gesicht nehmen. Die Umstehenden lachen, ich verziehe das Gesicht, obwohl ich auch lachen muss, will dennoch in der Rolle der Angeekelten bleiben, um zu erheitern.

Später kommt noch ein Junge an, mit einem Schmetterling, dessen Flügel wieder zwischen Daumen und Zeigefinger kleben. Mit dem ist es aus, denke ich. Als Kind hat man doch gelernt, dass Schmetterlinge nicht mehr fliegen können, wenn man ihre Flügel berührt hat, oder nicht? Als das Kind den Schmetterling freilässt, erlebe ich mit, wie das Insekt hastig davonfliegt. Sein Flug sah nicht 1A aus, aber geflogen ist er noch. Schön.

Gerade mit den Siebt- und Achtklässlern bauen wir eine gute Verbindung auf. Ich glaube, ich habe es in vorherigen Blogeinträgen vielleicht schon erwähnt, aber es ist wirklich schön, sich mit den Kindern richtig unterhalten zu können. Suchitra aus der Achten hat eine Idee für den Spruch „Everyone in equal“ geliefert. An dem Tag in der letzten Woche waren ihre beiden Besties, Milana und Archana nicht da, so hat sie viel Zeit bei uns draußen verbracht.

Eigentlich wollten wir ein paar Kinder neben den Spruch malen, vielleicht einen Baum und eine Blume, was Einfaches, als Suchitra sagt, dass wir doch die Religionszeichen malen könnten. Das ist genial, das haben wir so gemacht. Bei den Kindern und den Lehrerinnen kam es gut an, auch wenn sich viel über das Fragezeichen gewundert wurde. „Atheism“, sagen wir, „believing in no god“, „our religion“ – aber irgendwie versteht das keiner so richtig.

Einen Tag vor der Reise habe ich mein Portemonnaie klauen lassen, an der Bushaltestelle. Seither habe ich auf meine neu beantragte Visa-Karte und den Brief mit der Pin-Nummer gewartet. Letzterer ist „auf dem Postweg verloren gegangen“, so musste ich den neu beantragen, was noch mehr Zeit gekostet hat. Heute ist dann endlich der Tag gekommen, an dem ich beim Geldautomaten frische Scheine abheben konnte. Finally, die Ära des Geldleihens ist vorbei. Diese Aktion und das Reparieren meiner Sandalen hat mich heute in die Stadt geführt.

Ich gebe meine Schuhe bei dem 1m³ großen Lädchen ab. In der Erwartung, dass das Reparieren meiner Schuhe eine kleine Ewigkeit dauern könnte, mache ich mich barfüßig weiter auf zum Markt, um Adil einen Besuch abzustatten. Bei Chai quatscht es sich ganz gut mit den anderen Freiwilligen. Wir gewinnen noch einen weiteren Teilnehmer für die BR Hills dazu, und dann ist es auch schon Zeit, die Schuhe abzuholen und den vorletzten Bus um 18:45 nach Hause zu nehmen.

Die Schuhe hat der Schuster wunderbar repariert. Die Ferse war anfangs völlig zerstört – kein Wunder, bei täglichem Tragen, fast zehn Monate lang. [10 Monate, ich kann das gar nicht glauben!] Als ich sie wieder anziehe, ist die Sohle mit einem neuen Absatz versehen, das Innenbett erneuert, die Verbindung von Trageriemen und Sohle festgeklebt und sogar der Verschluss erneuert, womit ich gar nicht gerechnet habe. Die Farbkleckser aus der Schule hat er allerdings drangelassen. Ich bezahle 150 Rupien – 2 Euro – und habe ein völlig neues Laufgefühl, als ich mich zum Busbahnhof aufmache.

Als der Bus 110C etwas verspätet, aber im Rahmen, eintrifft, bietet mir die Frau ganz vorne ihren freien Nachbarsitz an. Ich setze mich zu ihr, und wir fangen ein bisschen an, zu quatschen. Ich versuche, mit den Kannadafährigkeiten zu Prahlen, und sie freut sich. Unsere beiden Sitznachbarinnen auf der anderen Seite, zwei Frauen, die schon vorher auf dem Weg nach Galigarahundi aussteigen müssen, drehen sich rüber und fragen mich, wo ich hinfahre. Meine Nachbarin sagt ihnen, ich würde viel Kannada sprechen können – Ich freue mich, das ist das erste Mal, dass jemand das sagt. Cool! Lakshmi, so hieß meine Nachbarin, arbeitet im Zoo von Mysore und findet die Stadt total super. Im Zoo kommen so viele Besucher von überall her, und dann kann sie immer ein paar Worte mit Leuten aus anderen Bundesstaaten wechseln, was sie sehr freut. Ihre Eltern haben ihr Tamil, die Sprache vom südindischen Nachbarstaat Tamil Nadu, beigebracht. Außerdem hat Mysore so viel zu bieten. Abgesehen vom Zoo gibt es noch den Palace, ja, mit vielen kleinen Tempeln drumherum. Als sie das sagt, fahren wir gerade an einer der Außenmauern des Mysore Palace vorbei, und tatsächlich sehe ich die zahlreichen Tempel, die mir vorher noch nicht aufgefallen sind. Und die Chamundi Hills gibt es, und diese Kirche, dessen Namen Lakshmi, aber nicht ich wusste. So viele Sachen, in Mysore, die man sich anschauen kann. Und es ist so schön ruhig. Gerade abends, so nach neun Uhr, meint Lakshmi, ist kaum einer mehr unterwegs. Diese Unterhaltung hat mir sehr viel Spaß gemacht, da Lakshmi leise, aber deut- und englisch gesprochen hat. Lächelnd winken wir uns zur Verabschiedung zu, als der Bus weiterfährt, nachdem sie ausgestiegen ist.

Den Hauptteil der Fahrt habe ich alleine verbracht, da Lakshmi noch innerhalb des City Circles ausgestiegen ist. Es war schon dunkel, die wenigen Wolken vom Wind zerpflügt und der frische, rot-gelbliche Vollmond schimmert hindurch, hinterlässt einen beschlagenen Glanz auf den Wolken, für den es bestimmt einen wissenschaftlichen Ausdruck gibt.

Ich bin immer erstaunt, wenn ich sehe, wie schnell der Mond seine Größe und Form ändert. Nicht jeden Abend sehe ich ihn, aber man bemerkt an dem Wechsel so das Verlaufen der wenigen Zeit, die noch übrig ist, wirklich ausgesprochen gut. Ich will nicht weg. Klar, man freut sich auf zu Hause, Wuppertal, die Leute, die Family und die Schwebebahn, Spieleabende und Fahrradfahren, was weiß ich, was man halt zu Hause so macht und hat.

Aber ich werde doch definitiv die Palmen vermissen, und habe ein schlechtes Gewissen, die Mauern in der Schule ungestrichen zu lassen. Wir werden noch so viel zu tun haben, in den nächsten Wochen an Arbeitstagen, sodass ich nicht sagen kann, ob wir damit noch rechtzeitig fertig werden. Unser Zeitplan muss tight sein, aber Planung ist hier nicht so wichtig, deshalb können wir nur schauen, ob wir es schaffen. Es wird mir auch fehlen, an den Wochenenden spontan wegfahren zu können – man setzt sich einfach in einen Bus am Suburban Busstand, bezahlt seine 50 Cent und fährt sonstwo hin. Diese Freiheiten und Neuheiten hier halten mich auf Trab, am Laufen, meine Augen sehen so viel, wo meine Ohren und mein Kopf nicht alles verstehen können. Mein Tagebuch füllt sich mit Geschichten, Bildern und Bustickets, ich musste schon ein Zweites anfangen, was möglicherweise gar nicht ausreichend sein wird.

Unser Dorf ist ein zweites, kleines zu Hause, wir kennen wir Leute, die Hunde haben Namen bekommen. [Diesen Satz musste ich noch irgendwo einfügen, bevor ich mit pathetischen Worten schließe.]

Schon jetzt bin ich so dankbar für diese ganze lange Zeit in einem fremden Land, was für mich nicht interessanter sein können. Ich bin gespannt, was die Endphase noch für uns bereit hält, was noch passiert, wo doch schon so viel passiert ist. Und die Zeit doch auch viel zu schnell rumgegangen ist.

Adieu –

photo5474468511117060184

PS.: das Office der Schulleiterin.